Zeitnah

Stellen Sie sich mal folgende Situation vor:
Sie sitzen zusammen mit Ihrer Angebeteten in einem ausgewählten Restaurant. Der Tisch ist ansprechend dekoriert. Die Kerze verbreitet die richtige Stimmung. Sie haben sorgfältig die richtigen Sätze in- und auswendig einstudiert. Das Essen, besonders das Dessert, war deliziös. Sie lächeln sie an, holen elegant die kleine Schachtel aus Ihrer Jackettasche und schieben sie ihr, während sie diese langsam öffnen, über den Tisch. Sie schauen sie lächelnd an und stellen ihr die eine Frage:


„Willst du mich heiraten?“
Sie lächelt zurück und greift dabei Ihre Hände. Sie beugt sich nach vorne und antwortet:
„Natürlich mein Schatz, zeitnah!“
Das war er der Todesstoß. Zunichte gemacht mit einem Wort. Zeitnah! Das ist natürlich alles rein hypothetisch. Keine Frau würde mit einem „Zeitnah!“ antworten. Nun, gerade diese Situation zeigt aber sehr gut, was von der Wortschöpfung zeitnah zu halten ist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und will mich terminlich nicht festlegen, weil ich mir unsicher bin oder grundsätzlich keine Ahnung habe.

Sitzen Sie öfter in Meetings? Dann sollte Ihnen dieses Wort eigentlich geläufig sein. Dabei lassen sich die Menschen in zwei Kategorien einteilen:
Die Zeitnah-Hasser, zu diesen gehöre ich, und die Zeitnah-Benutzer, die anderen.
Was passiert also, wenn ein ZH auf einen ZB trifft? Hier ein Beispiel wie es mir tatsächlich widerfahren ist.

Ich hatte vormittags bei einer Hotline wegen eines Druckerproblems angerufen. Gegen Ende des Gespräches war abzusehen, dass wir zu keiner Lösung finden würden, da kein besseres Austauschgerät verfügbar war. Ich drängte auf eine Lösung und der Mitarbeiter der Firma erklärte mir, dass er sich mit seinem Vorgesetzten besprechen müsse. Dann machte er den schweren ZB- Fehler.
„Ich melde mich dann wieder zeitnah bei Ihnen!“
Da war es, mir sträubten sich die Nackenhaare.
„Na das ist doch fein, Sie rufen mich also spätestens heute Mittag zurück?“
„Ja, nein, ääähhm, so schnell habe ich wohl keine Entscheidung.“
„Also dann morgen im Laufe des Tages?“
„Auch das wird, fürchte ich, nicht hinhauen. Ich denke Anfang nächster Woche sollte ich die benötigten Information für Sie haben.“
„Also am Montag?“
Sie können sich denken, dass er sich auch darauf nicht festlegen wollte. Ich habe ihn dann am Mittwoch nach unserem Gespräch angerufen und gefragt, ob das für ihn zeitnah bedeute. Ich denke, ich habe erreicht, dass er dieses Wort nicht mehr so schnell verwendet.

Vor nicht allzu langer Zeit verwendeten die Menschen noch solche Worte wie „bald“ oder „demnächst“, wenn sie sich nicht so genau festlegen wollten. Man wusste dann, dass es etwas länger dauern konnte und hat sich darauf eingestellt. Doch in einer Zeit, in der die Marketing- und Vertriebssprache immer mehr zum normalen Umgangston gehört, ist es wohl nicht mehr angebracht klare Aussagen zu treffen.
„Wir müssen zeitnah Synergien bilden um konkurrenzfähig zu bleiben.“
„Dieses Projekt muss zeitnah zum Abschluss gebracht werden.“
Kaum verwunderlich, dass sich die meisten Mitarbeiter hinterher viel Zeit mit der Erledigung ihrer Arbeit lassen. Zeitnah ist nämlich sehr dehnbar und ohne Bezugsrahmen.

So gesehen werden wir alle zeitnah sterben. Schade eigentlich, ich hatte noch so viel vor.

Zeitnaher Gruß

Kurt Waplinger

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Datum: Donnerstag, 1. September 2005 11:41
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