Nichts mehr hören
„Es tut mir leid, aber so etwas mache ich nicht.“
Der Arzt schaute den jungen Mann, der ihm gegenüber Platz genommen hatte, verärgert an.
„Warum nicht?“
Er saß aufrecht auf seinem Patientenstuhl vor einem protzigen Schreibtisch, der ihn gewollt distanziert vom Arzt trennte.
„Ihr Wunsch ist gegen meinen Berufsethos und ich kann nur annehmen dass Sie mich hier veralbern möchten. Für so etwas habe ich keine Zeit. Haben Sie sonst irgendwelche Beschwerden? Ansonsten möchte ich Sie bitten mich jetzt zu verlassen, da noch mehr Patienten auf mich warten.“
Der Arzt stand auf und wollte seinen ungewöhnlichen Gast so schnell wie möglich wieder loswerden. Galant versuchte er mit einer einladenden Geste seinen Besucher zum Aufstehen zu bewegen. Doch dieser rührte sich nicht.
„Hören Sie das?“
„Was soll ich hören? Ich kann nichts Ungewöhnliches hören. Würden Sie jetzt bitte gehen wenn Sie keine weiteren Fragen haben.“
Er öffnete die Tür seines Büros und wartete dort mit einer Geste der Ungeduld. Im Flur des Krankenhauses war ein reges Treiben zu beobachten. Pfleger, die Patienten in Betten zum OP oder in ihre Zimmer zurück brachten. Krankenschwestern mit Pillenschälchen, schnell von einem zum nächsten Raum laufend um das mangelnde Personal durch Hektik auszugleichen. Leere Stühle im Wartebereich, die darauf schließen ließen, dass der Arzt gelogen hatte.
„Hören Sie doch hin. Nur für einen Moment.“
Der Mediziner blickte kurz zur Decke.
„Was soll ich denn Ihrer Meinung nach hören, können Sie mir das sagen?“
„Na, all diese Geräusche, den Lärm.“
Der Arzt schloss die Tür wieder und sah plötzlich sehr verständnisvoll aus. Er steckte die Hände in seinen Kittel und setzte sich mit gönnerhafter Miene wieder hinter seinen Schreibtisch.
„Warum haben Sie mir denn nicht gleich gesagt, dass Sie Ohrgeräusche haben? Wir haben sehr gute Erfahrungen in der Behandlung von Tinituserkrankungen. Auf keinen Fall müssen wir uns gleich zu drastischen Eingriffen, wie dem von Ihnen gewünschten, hinreißen lassen.“
„Das meine ich nicht. So hören Sie doch einfach mal nur hin.“
Der Arzt lehnte sich zurück und nahm für einen Moment die Geräusche auf, die ihn umgaben. Hinter seinem Sessel im Regal spielte leise ein Radio eine klassische Melodie. Eigentlich hasste er Klassik, aber es beruhigte die Patienten, wie er fand.
„Ja, mein Radio. Was ist damit? Ich liebe klassische Musik und empfinde sie nicht als störend.“
„Und weiter?“
„Was weiter, was soll das?“
„Was hören Sie noch?“
„Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.“
Er stützte sich auf seine Stuhllehnen um aufzustehen.
„Bleiben Sie sitzen und hören sie endlich einmal hin.“, sagte der junge Mann ein wenig lauter, ohne dass sich dabei seine Haltung oder sein Ausdruck verändert hätte.
Er lehnte sich wieder zurück und der Ton war im sehr wohl aufgefallen. Ob sein Patient wohl zu Gewalt neigte? Mit einem mulmigen Gefühl versuchte er heraus zu hören, was sein Gegenüber meinte.
Draußen auf dem Flur meinte er das Klappern der Rollbetten zu vernehmen. Irgendwo hörte er die neue Stationsschwester lachen. Das Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum war zu erkennen. Besucher schienen sich auf dem Flur zu unterhalten.
Er schaute sich in seinem Zimmer um. Von der Uhr an der Wand kam ein leises Tick-Tack herüber. Von der Straße drangen die Geräusche der Autos und ein Hupen herein. Aus der Ferne konnte er die Sirene eines Krankenwagen hören, die sich aber zu entfernen schien. Unter dem Tisch rauschte sein PC, was selbst ihn des öfteren nervte, da er extra auf einem sehr ruhigen Gerät bestanden hatte.
„Ok, ich habe nun einige Dinge wahrgenommen, auf die ich vorher nicht so geachtet habe.“
„Wie viele waren es?“
„Bitte“, er lächelte künstlich, „ich habe sie natürlich nicht gezählt. Es dürften so fünf bis sechs unterschiedliche Geräusche gewesen sein, vermute ich.“
„So, vermuten Sie. Während sie lauschten, konnte ich ohne größere Probleme mindestens elf differenzierte Geräusche ausmachen. Elf, dabei habe ich Ihr genervtes Geschnaufe und Gezappel mit den Beinen nicht mitgerechnet. Und Ihr Stuhl knarrt, wenn Sie sich drehen.“
Er machte eine kurze Pause.
„Ich arbeite in einem Großraumbüro, wissen Sie. In extremen Zeiten kann ich gleichzeitig ohne viel Mühe bis zu zwanzig, hören Sie, zwanzig verschiedene Geräusche wahr nehmen. Selbst wenn ich auf dem Heimweg mein Autoradio auslasse, umschließt mich der Verkehr und der Lärm scheint mich zu erdrücken. Wenn ich dann nach Hause komme, möchten meine beiden Kinder mit mir spielen. Doch ich schreie sie an, sie sollen doch endlich mal still sein. Nachts höre ich immer noch Dinge, die außerhalb unserer Mietswohnung passieren. Wir wohnen nämlich in so einem tollen Betonbau, in dem man jeden Schritt der Nachbarn verfolgen kann. Wenn ich dann noch meine Frau neben mir atmen höre, gehe ich oft zum Schlafen auf die Couch, weil ich Angst um sie habe, verstehen Sie. Ich habe Angst, ich könnte ihr etwas antun, damit ich mehr Ruhe habe.“
Er legte seinen Kopf in die Hände und als er wieder aufschaute, konnte der Arzt erkennen, dass es dem jungen Mann mit seinem Wunsch vollkommen ernst war.
„Ich möchte das alles nicht mehr. Ich mag nichts mehr hören. Bitte machen Sie mich taub!“
„Das ist doch Irrsinn! Was sie da verlangen, kann ich nicht machen, selbst wenn ich wollte. Das wäre Körperverletzung, ich müsste meine Praxis aufgeben, wenn das heraus käme. Ich denke, eine psychiatrische Behandlung könnte Ihnen helfen mit diesem Problem zurecht zu kommen.“
„Das habe ich bereits alles hinter mir. Es hat nichts gebracht und auch nichts an meinem Beschluss geändert. Ich möchte taub sein und Sie werden die Operation durchführen.“
Der Arzt sprang auf. Dieser junge Mann war ihm absolut unheimlich und er schien es mit seinem Vorhaben sehr ernst zu meinen. „Ich muss ihn irgendwie hier heraus bekommen.“
„Was sagt Ihre Frau dazu? Haben Sie mit ihr darüber gesprochen? Sie kann dem doch unmöglich zustimmen.“
„Meine Frau unterstützt mich bei diesem Vorhaben voll und ganz. Wir haben lange darüber gesprochen und uns schon bei einer Schule für Gebärdensprache angemeldet. Meine Arbeit kann ich problemlos auch ohne Gehör erledige, wahrscheinlich sogar besser als jetzt, da ich dann konzentrierter arbeiten kann. Meine Frau sagt selbst, dass sie gerne den Mann wieder hätte den sie geheiratet hat und mit dem sie glücklich war. Dafür würde sie alles tun und ich kann mich in diesem Punkt voll auf sie verlassen.“
Der Arzt war schon wieder zur Tür gegangen und hatte diese leicht geöffnet, was dem jungen Mann wohl als Hinweis dienen sollte zu gehen. Dieser jedoch saß immer noch unbeweglich auf seinem Stuhl und lächelte plötzlich.
„Das ist doch ein Versuch mich zu verarschen! Jetzt holen Sie bestimmt gleich die versteckte Kamera heraus und rufen, Hallo, ich bin vom Sender 0815 und wir haben Sie hereingelegt!“
Die Stimme des Arztes hatte einen schrillen Beiton bekommen.
„Und wahrscheinlich finden Sie das auch noch besonders lustig, sonst würden Sie nicht noch so extra dämlich grinsen!“
Er öffnete die Tür und rief nach seiner Sekretärin.
„Was denken S,ie warum ich gerade zu Ihnen gekommen bin? Warum bin ich nicht zu einem anderen Spezialisten auf diesem Gebiet?
„Was weiß denn ich. Vielleicht weil ich in Ihrer Nähe praktiziere oder weil Ihr bekloppter „Verstehen Sie Spaß“-Sender gehört hat, dass ich der Beste auf meinem Gebiet bin. Raus jetzt!“
„Nein, ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie jede Menge Dreck am Stecken haben, nur deshalb.“
„Sie hatten mich gerufen? Ich war gerade kurz nicht am Platz.“ Die Sekretärin stand vor der Tür und sah ihren Chef erwartungsvoll an. Dieser schloss sein Büro langsam wieder.
„Sie können wieder gehen, es ist nichts, ich habe mich geirrt.“
Es ging um seinen Tisch und setzte sich steif in seinen Stuhl.
„Was wird das jetzt? Wollen Sie mir drohen?“
„Ich möchte, dass Sie mich operieren. Da Sie dies offensichtlich nicht freiwillig tun, muss ich zu anderen Mitteln greifen.“
„Und mit welch lächerlichen Mitteln wollen Sie mich erpressen? Alle meine Eingriffe waren stets erfolgreich, ich habe nie einen Fehler begangen.“
„Warum haben Sie dann die Tür wieder zugemacht? Lassen wir die Spielchen einfach. Meine Frau arbeitet bei der privatärztlichen Verrechnungsstelle, soll ich noch mehr sagen?“
„Pfffh, und“, er schnaufte verächtlich. „Ist doch schön für Ihre Frau.“
Der junge Mann kramte einen Zettel hervor, stand auf und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Dabei sah er konzentriert auf das Papier.
„Sie haben im letzten Jahr 23 Operationen doppelt abgerechnet. Uns ist immer noch nicht ganz klar, wie Sie das geschafft haben, aber die Staatsanwaltschaft wird dies sicherlich aufdecken können. Des Weiteren haben Sie mit einem befreundeten Apotheker Rezepte gefälscht. Als ich ihn damit konfrontiert habe, fing er an ganz nervös und zappelig zu werden. Ich glaube, er wäre ein guter Zeuge um gegen Sie auszusagen. Hat er Sie nicht angerufen? Nein, na, er wird wohl seine Gründe haben. Sie rechnen Behandlungen und Beratungen ab, die Sie nie durchgeführt haben und wenn ich mich nicht allzu sehr irren sollte hängt ihre Sekretärin auch irgendwie mit drin, denn die meisten Rechnungen gehen doch wohl durch deren Hand.“
Er setzte sich wieder und schaute den Arzt an. Dieser rieb seine feuchten Hände an der Hose.
„Was verdammt wollen Sie von mir?“
„Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Ich möchte, dass Sie mich taub machen.“
„Sie stellen sich das so einfach vor. Wissen Sie, zu welchen Komplikationen es da kommen kann? Sie werden höchstwahrscheinlich Gleichgewichtsstörungen haben. Immer eine Hand an einer Wand aus Angst, Sie könnten umfallen. Schön, Sie werden Ihre Umwelt nicht mehr hören, aber dafür eventuell mit Ohrgeräuschen leben müssen. Genau das möchten Sie aber nicht. Sie möchten Ruhe. Das kann ich Ihnen aber nicht garantieren. Mit Sicherheit werden Sie extrem starke Schmerzen nach der Operation haben. Haben Sie sich das alles überlegt? Sind Sie dazu bereit?“
Er hatte versucht die besten Argumente aufzuführen. Doch sein Gast lächelte nur.
„Sie sind mein Mann. Ich habe Monate im Internet verbracht, habe mich mit allen Risiken vertraut gemacht, sämtliche Artikel über Sie und Ihre Handwerkskunst gelesen. Sie persönlich werden die Operation durchführen. Keiner kann Ihnen auf diesem Gebiet das Wasser reichen.“
„Und danach, wie soll das weiter gehen? Sie könnten nach der Operation immer weiter machen. Geld von mir erpressen. Weitere „Gefälligkeiten“ fordern. Was gibt mir die Garantie dass Sie mich in Ruhe lassen?“
„Es geht hier nicht um Geld. Es geht um diese eine Angelegenheit. Wenn Sie alles korrekt durchführen, werden Sie mich nie mehr wieder sehen und ich schwöre Ihnen, dass wir alle Unterlagen, die wir über Ihre Machenschaften gesammelt haben, vernichten werden. Ich kann nicht mehr tun als es Ihnen zu versprechen und Sie müssen mir glauben.“
Der Arzt schnaufte verächtlich.
„Tja, wie wir vorhin bemerkt haben, hätten Sie die OP niemals freiwillig durchgeführt. Was blieb mir also anderes übrig als auf diese Weise zu zwingen? Womit wir bei der Frage wären: Wann können Sie anfangen?“
„Wie, wann kann ich anfangen? Ihnen wäre es wohl am liebsten, ich würde die Operation gleich durchführen“, fügte er sarkastisch hinzu.
„Stimmt!“, entgegnete der junge Mann.
Der Arzt sackte in sich zusammen.
„Das war als Scherz gemeint. Ich kann Sie unmöglich heute operieren. Dafür sind Vorbereitungen nötig. Ich…“
„Ich habe Ihre Ausreden satt. Entweder Sie lassen jetzt einen Operationssaal herrichten um den Eingriff vorzunehmen oder ich verlasse auf der Stelle Ihr Büro und spätestens morgen haben Sie die Polizei am Hals. Entscheiden sie sich jetzt. Sofort.“
Er war aufgestanden und schaute den Arzt hinter seinem Schreibtisch an. Dieser beugte sich nach vorne und griff zum Telefon.
„Ja, ich möchte, dass Sie einen Operationssaal für eine unvorhergesehene Operation herrichten lassen. Ich brauche einen Betäuber und besorgen Sie mir eine von diesen neuen Schwestern als Assistentin für die OP. Nein, ich möchte keine Erfahrene. Die Neuen sollen auch mal zum Zug kommen. …Das ist mir egal, dann schauen Sie, wo Sie eine her bekommen. Die Küken sitzen doch sowieso nur irgendwo rum und erzählen sich den neusten Tratsch. Geben Sie mir Bescheid, wenn alles vorbereitet ist.“
Er schlug den Hörer auf.
Sein Gast lächelte.
„Sehr schlau von Ihnen, eine unerfahrene Schwester zu verlangen. Sie wird kaum mitbekommen, was vor sich geht, weil sie damit beschäftigt sein wird Ihnen die richtigen Gerätschaften zu reichen.“
Termin der letzten Nachuntersuchung
„Nun“, fragte der Arzt in Gebärdensprache, „haben Sie irgend welche Beschwerden, Gleichgewichtsstörungen oder Phantomgeräusche?“
Der junge Mann antwortete mit einer Kombination aus gesprochenem Wort und Gebärden.
„Es ist alles genau so, wie ich es mir gewünscht habe. Absolute Ruhe. Manchmal glaube ich noch etwas zu hören, aber ich weiß, dass dies reine Einbildung ist und kann damit, denke ich, sehr gut umgehen.“
Er beugte sich zu der Tasche, die neben seinem Stuhl stand und holte einen Stapel Papier heraus. Er legte ihn dem Arzt auf den Tisch.
„Dies sind alle Unterlagen, die wir über ihre kleinen Geschäfte gesammelt haben. Ich schwöre Ihnen, dass es keine Kopien davon gibt.“
Der junge Mann packte seine Tasche, ging in Richtung Tür und drehte sich noch einmal um.
„Und ich werde Sie hoffentlich nie mehr wieder sehen ?“, fragte der Arzt.
Eine kurze Gebärde brachte die gewünschte Bestätigung.
„Versprochen.“
Als der junge Mann das Zimmer verlassen hatte, ging der Arzt zu seinem Radio und schaltete es ab. Er setzte sich in seinen Stuhl und ließ ein Blatt nach dem anderen in seinem Aktenvernichter verschwinden. Danach war es sehr still im Raum. Nur das Klicken des Zeigers seiner Wanduhr war zu vernehmen. Er nahm sie von der Wand und entfernte die Batterien.
© Kurt Waplinger 2005