Fremde Leben

Ich und mein großes Maul. Ich hätte die Klappe halten und mir meinen Teil denken sollen. Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Nach einer durchgesoffenen Nacht mit meinen Kumpels liege ich noch ewig im Bett. Seit meine Ex ausgezogen war, hatte ich in meiner Bude keinen Finger mehr gerührt. Sie sollte ruhig sehen, wie ich leide, wenn sie wieder vor der Tür steht. Ich quäle mich also raus, ziehe meinen Jogginganzug an und gehe zum Frühschoppen zu meinem Stammkiosk. So eine Arbeitslosigkeit hat auch ihre Vorteile: Man kann machen, was man will und wann man es will. Auch die Schuld von meiner Ex. Die Trennung hatte mich echt schwer mitgenommen. Konnte nicht mehr zur Arbeit und so.

Wie ich da so stehe und meine zweite Dose Bier leere, kommen doch diese drei Bubis am Kiosk vorbei. Die sehen doch alle gleich aus mit ihren Hosen, wo der Arsch in den Knien hängt. Darüber ein T-Shirt, natürlich drei Nummern zu groß. Und dann noch diese dämlichen Strickkappen. Bei jedem Wetter diese hässlichen Eminemdeckel auf dem Kopf. Deswegen sind die auch alle so dumm und aggressiv. Der Kopf wird zu warm.

Kaum sind die drei vorbei, dreh‘ ich mich zum Karl um, dem gehört der Kiosk, und sage entsprechend laut: „Nun schau dir mal die voll geschissenen Hosen an!“

Tja, wie ich schon sagte, ich und mein großes Maul. Nach der zweiten Dose Bier und jeder Menge Restalkohol wird man nun mal mutig. Ich hätte wetten können, die gehen weiter. Denkste, der eine dreht sich um und kommt zurück.

„Redst de mit mir, du Penner?“

Da ist er weg, der Mut. Das Bier wird schal im Mund und die letzte Nacht macht sich in meinem Magen bemerkbar. Der Typ kann nicht älter als sechzehn sein und ist schon einen halben Kopf größer als ich. Das kommt bestimmt von den vielen Hormonen, die die sich heute ins Essen mischen. Ich versuche noch einen auf Locker zu machen.

„Hey, ganz cool, war ja nicht so gemeint. Habe ein bißchen zu viel gesoffen, da rede ich eben dummes Zeug.“

Er baut sich vor mir auf und seine zwei Kumpel gleich daneben. Sie grinsen mich an.

„Schaut euch den Säufer an,“ meint er den beiden zugewandt, „steht hier mit seinem vollgesifften Jogginganzug und hetzt über unsere Klamotten. Mann du Arsch, hast du dich mal angeguckt? Du stinkst aus’m Mund bis hier rüber und reißt deine Klappe auf. Geh dich erst mal waschen, bevor du uns hier anmachst, klar.“

„Na, wenigstens hab ich einen Arsch in der Hose.“

Die Schmerzen in meinem Gesicht waren wie eine Explosion. Ich habe noch versucht mich festzuhalten, konnte aber nichts greifen und bin wie ein Sack zu Boden gegangen. Dann haben sie dem Sack den Rest gegeben. Ich hörte sie lachen und den Karl brüllen. Die Tritte haben dann auch schon nicht mehr weh getan, dem Alkohol sei Dank. Oder lag es am Adrenalin? War mir in dem Moment auch völlig egal. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, war wie der Karl sich über mich beugt und ständig „Scheiße, Scheiße“ vor sich hinplappert. Ich drehe mich zum Kiosk und sehe in der Tageszeitung noch eine Überschrift „Politiker bedient sich aus Hilfsfond!“ Dann hatte ich endlich meine Ruhe.

Mithilfe

Als ich aufwache, warte ich auf die Schmerzen, aber sie kommen nicht. Überhaupt ist alles ganz falsch. Ich liege nicht im Krankenhaus. In meiner Bude bin ich aber auch nicht, die hätte ich am Geruch erkannt. Ich versuche mich zu bewegen, aber es rührt sich nichts. Zumindest nicht so wie ich es erwarte. Ich setze mich im Bett auf. Aber das bin nicht ich, der sich da aufsetzt. Ich schließe meine Augen und sehe immer noch alles. Ich versuche zu sprechen und kein Ton ist zu hören. Ich, beziehungsweise er, steht auf und geht ins Badezimmer. Ich weiß, dass er ins Bad geht, weil ich den Sturm an Gedanken und Erinnerungen miterlebe. Er verrichtet seine Toilette und tritt an den Spiegel, um sich zu kämmen. Ich sehe ihn im Spiegel und möchte am liebsten schreien. Verdammt, was ist mit mir los? Ich muss träumen, kann mich aber nicht kneifen. Ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen, kann mich aber nicht erinnern wo.

Er geht zurück ins Schlafzimmer und schaut auf die nackte Schönheit, die dort noch schläft. Ich spüre seine Lust, doch dann packt er sie grob am Arm.

„Ich hatte dir doch gesagt, du sollst abhauen. Warum liegst du noch hier rum? Was denkst du, wenn dich einer hier sieht? Dann stehen die Zeitungen wieder voll mit irgendwelchen Gerüchten.“

Sie springt aus dem Bett und flucht in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Klingt wie Spanisch oder so. Sie schlüpft in ein paar Shorts und ein kurzes T-Shirt und dann schaut sie mich an.

Er wirft ihr einen Schein auf den Boden und grinst. Sie packt das Geld und geht aus dem Zimmer. Ich weiß, dass sie ihn verachtet und fühle, wie er sie hasst. Weil er sie kaufen muss, damit sie mit ihm schläft.

Er geht zum Telefon und bestellt ein Frühstück. Während er sich anzieht, versuche ich mir über die Situation klar zu werden.

Ganz offensichtlich muss ich träumen. Da ist ein Typ, den ich schon einmal irgendwo gesehen habe, in dessen Körper ich festsitze. Wir sind in einem Hotel, vermutlich in Spanien. Dafür würde auch die Hitze sprechen. Er scheint wichtig zu sein. Zumindest ist er reich. Wie könnte er sich sonst so ein tolles Hotelzimmer leisten? Was soll das alles? Werde ich gleich aufwachen und allen von meinem komischen Traum erzählen?

Ich höre ihn denken. Bekomme aber immer nur Fetzen mit. Alles geht so schnell. Ich versuche mich zu konzentrieren und es wird besser, klarer.

Er wartet auf einen Anruf seines Assistenten. Er wundert sich warum er noch nicht angerufen hat und was wohl dazwischen gekommen ist. Dann kommen Erinnerungen an ein Auto, das er sich neu bestellt hat und was er wohl noch alles mit dem vielen Geld anstellen wird.

Und da wird mir plötzlich klar, woher ich den Kerl kenne. Dies ist der Typ, dessen Bild ich noch unter der Überschrift der Zeitung an Karls Kiosk gesehen habe, bevor ich weggetreten bin. Ich bin im Körper dieses Kerls der das Geld aus dem Hilfsfond genommen hat. Er hat es getan. Ich weiß es weil er es weiß. Selbst wie er es angestellt hat ist mir nun klar.

Außer meinen Stammtischgesprächen am Kiosk habe ich keine Ahnung von Politik oder Geldgeschäften. Hat mich nie interessiert. Von dem Abzocker hier kann ich aber noch etwas lernen, ich muss nur aufpassen.

Er hat die Verantwortung über einen Hilfsfond zum Aufbau der kubanischen Infrastruktur oder so ähnlich. Muss mich mehr auf ihn konzentrieren. Dabei fließen Milliarden aus verschiedenen Ländern. Immer wenn mal wieder Geld an den Hilfsfond zu überweisen war, hat er die Überweisung einen Tag verzögert, das Geld auf eines seiner Konten einbezahlt, die Zinsen kassiert und am nächsten Tag das Geld weiter transferiert.

Ich fühle seine Euphorie über die gelungene Idee. Von seiner Gier nach immer mehr wird mir schlecht. Ich will aus dem Kerl raus, aus diesem Traum.

Das Telefon klingelt.

„Ja!“

„Ich bin es. Es gibt schlechte Neuigkeiten aus Deutschland:“

Ich spüre, wie ihm warm wird, wie ihm das Blut in den Kopf schießt.

„Was ist passiert?“

„Irgendein Reporter hat von unseren Transfers Wind bekommen und recherchiert. Seine Zeitung hat gestern einen Artikel veröffentlicht. Ein Bild von Ihnen auch dabei. Soll ich’s Ihnen vorlesen?“

Seine Gedanken rasen.

Ich kann ihnen nicht mehr richtig folgen.

Das Geld muss weg. In Sicherheit. Einen Schuldigen finden. Sein Assistent hat alles gewusst und geholfen. Alles ihm zuschreiben.

Dem Körper wird schwindelig und seine Hände zittern.

„Sind sie noch da?“

„Ja. Haben wir eine Chance, das Geld wegzuschaffen?“, sagt er.

„Man hat ihre Konten gesperrt. Es wurde ein Untersuchungsausschuss einberufen. Sie sollen sofort zurück nach Deutschland fliegen.“

Seine Angst weicht nun Wut. Er fängt an zu brüllen.

„Und was ist mit Ihnen? Sie hängen auch ganz tief mit drin. Glauben Sie ich lasse sie einfach so aus der Sache raus?“

Sein Assistent bleibt vollkommen ruhig.

„Sie konnten ja den Hals nicht voll genug kriegen. Ich habe es schon vor Wochen sein gelassen und meine Spuren verwischt. Ich habe genug, um gut zu leben, aber Sie konnten ja nicht aufhören. Teure Autos, Mädchen und Urlaube. Dachten Sie wirklich, das fällt nicht auf? Die Gier hat Ihnen den Bezug zum Maß halten geraubt. Mir kann man überhaupt nichts beweisen und sie wird man verantwortlich machen.“

„Aber wir haben niemanden geschadet. Wir haben niemanden etwas weggenommen. Das Geld gehört mir.“

Er hört ein Lachen im Hörer.

„Sie tun mir leid. Glauben Sie wirklich, was Sie da sagen? Wir haben Geld gestohlen, Punkt. Sie sollten sich jetzt besser ein paar Ausreden einfallen lassen.“

Es klickt im Hörer.

Er schlägt ihn mit aller Gewalt auf den Tisch. Immer wieder, bis er bricht. Ich spüre, wozu dieser Mann fähig ist. Unterdrückte Gewalt bricht hervor. Brutale Erinnerungen stürmen auf mich ein. Wie er seine Frau schlägt. Wie er die gekauften Mädchen misshandelt. Sein Assistent, der ihm rät, sich in Zukunft mehr zu beherrschen, da es immer schwieriger würde, Frauen zu finden, die noch zu ihm kommen wollen.

„Dieses Schwein! Dieser verdammte Wichser! Dich krieg ich dran. Wenn ich nichts bekomme, sollst du auch nichts haben.“

Er läuft zum Schreibtisch und reißt die Schublade heraus. Er beugt sich hinunter und entnimmt ihr einen kleinen Aktenkoffer. Nach dem Öffnen greift er einen Stapel Papiere und eine Zeitschrift und verstreut alles im Zimmer.

Ein Brausen geht durch seinen Kopf. Ich versuche mich von seinen Gedanken abzuwenden, aber je intensiver sie werden, desto mehr fühle ich, was er fühlt und ich bekomme Angst.

Er geht ins Nebenzimmer an den Tisch. Die Teller vom Abendessen stehen noch auf dem Tisch. Hier hat er gestern noch mit seinem Assistenten gegessen. Mit einer Servierte nimmt er dessen Messer vorsichtig von Tisch. Nachdem die Hure gekommen war, hat er das Zimmermädchen nicht mehr herein gelassen.

Ich weiß jetzt, was er vorhat. Der Typ ist absolut irre. Der Hass macht ihn wahnsinnig. Ich schreie ihm Worte zu, die er nicht hören kann und versuche ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

Er geht zum Schreibtisch und kniet sich vor der Schubladenseite auf den Boden. Er steckt die Servierte ein und nimmt das Messer mit den Fingerspitzen an der Schneide. Er klemmt es vorsichtig mit der Spitze in seine Richtung zwischen Brustkorb und Schreibtisch.

Ich brülle, ich flehe, ich weine innerlich. Ich will nicht sterben. Nicht für so einen Drecksack. Lass den Scheiß und leg das Messer weg. Bitte!

„Dich krieg ich dran.“

Er wirft sich mit einem Ruck nach vorne. Ich spüre nichts, doch er hat kurz furchtbare Schmerzen. Ich verliere den Kontakt zu ihm. Er fällt auf die Seite, mit dem Gesicht auf die Zeitschrift. Ein Promipaar gibt seine Hochzeit bekannt, wie toll.

Seine Augen stehen offen und wie durch eine Kamera kann ich den ganzen Boden überblicken. Dann verlässt er mich, und ich gehe mit ihm.

Prozess

Ich tanze. Vielmehr der Körper, in dem ich mich jetzt befinde, tanzt. Er bewegt sich elegant mit einer wunderschönen Frau über die Tanzfläche und die Gäste klatschen. Auch sie beginnen sich nun zur Walzermelodie zu drehen. Er ist verliebt, ich bin verliebt.

„Du tanzt doch hervorragend, du alter Schwindler“, flüstert sie ihm zu.

„Weißt du, wie viele Tanzstunden ich nur für diesen Hochzeitswalzer nehmen musste? Ich habe unser komplettes Vermögen verprasst!“

Sie lacht ihn wieder an. Diese Lachen, das ihm das Herz höher schlagen lässt, bei dem er sie immer ganz fest halten und nie mehr los lassen möchte. Er hat sich fest vorgenommen, es nicht mehr zu versauen, diesmal nicht.

„Doch wirklich, ich musste sogar einen Kredit aufnehmen um die Anwälte der Tanzlehrerin zu schmieren. Wenn unsere Gäste weg sind, werden wir auf der Straße wohnen.“

Sie beugt sich wieder nach vorne: „Mit dir würde ich sogar in einem Zelt wohnen.“

Mann, was reden die bloß für einen Schmuß? Diesmal blicke ich schneller was abgeht. Ich bin im Bräutigam auf der Hochzeit dieses Promipaars. Ich heirate, na danke. Wenigstens scheint hier alles in Ordnung zu sein. Keine gierigen Politiker zu spüren. Nur ein absolut verliebter, berühmter Kerl. War ich jemals so verliebt?

Ein Gast klopft ihm auf die Schulter.

„Dürfte ich einmal mit meiner Tochter tanzen?“

Kurz flammt ein Gefühl in ihm auf, das ich so schnell nicht deuten kann, aber ich habe es mitbekommen, ohne mich auf ihn zu konzentrieren. Es muss etwas Unkontrolliertes gewesen sein. Mir ist schon im Politiker aufgefallen, dass ich wohl nur Gefühle von mir fernhalten kann die oberflächlich daher kommen. Das hier war eben eindeutig nicht oberflächlich.

Sie schaut ihn an, er lächelt.

„Selbstverständlich, wie könnte ich meinem Schwiegervater diesen Wunsch abschlagen.“

Sie tanzt mit ihrem Vater davon. Sie sieht umwerfend in diesem Brautkleid aus und er hat später das Glück es ihr ausziehen zu dürfen.

„Würde mein Schwiegersohn mir die Ehre eines Tanzes gewähren?“

„Es ist mir eine Freude.“

Er ist freundlich, und seine Freundlichkeit kommt von Herzen. Ich spüre das und irgendwie ist mir dieser Typ suspekt. Ich konnte die Mutter meiner Ex nicht ausstehen. Hat mir ständig Vorwürfe gemacht. Geredet hat die wie ein Buch. Als ob mich das interessiert hätte. Hier ist das anders. Er schätzt sie und redet gerne mit ihr. Hätte es so sein können?

„Ist alles in Ordnung mit dir?“

Sie schaut ihn an.

„Ja ja, ich war nur gerade woanders.“

„Jetzt schau nicht so missmutig, er ist ihr Vater. Er wird doch wohl mal mit ihr tanzen dürfen.“

„Ich kann wohl nichts vor dir verbergen. Wie die Tochter, so die Mutter. Sie bemerkt auch immer, wenn etwas nicht mit mir stimmt und ich bin ihr gegenüber immer so unachtsam.“

„Du redest Quatsch und das weißt du. Sie liebt dich und du musst dir keine Sorgen machen. Sie hat sich den Richtigen rausgesucht. Ich würde dich jedenfalls sofort nehmen.“

Beide lachen und er drückt sie kurz. Hätte es so sein können?

Nach dem Tanz geht er an die Bar und bestellt sich ein Wasser. Nur Wasser, du hast es ihr versprochen. Halt dich dran.

Sie tanzt mit seinem besten Freund. Sein Freund, auch kein Kostverächter.

Es trifft mich vollkommen unvorbereitet. Eine gigantische Woge von Eifersucht spült über mich hinweg. Er weiß, dass er sich keine Sorgen machen muss, hat es aber nicht im Griff. Rüber gehen und dem Arsch die Nase brechen. Wie er es schon bei anderen getan hat, die seinen Mädchen zu nahe gekommen sind. Atmen, tief einatmen. Es wird wieder besser. Sie tanzen nur miteinander. Sie wird heute Abend noch mit vielen Männern tanzen. Krieg dich wieder ein.

Ich fühle mich zum Kotzen. So etwas habe ich vorher noch nie gespürt. Es frisst an meinem Herz, oder an seinem. Ich kann es nicht mehr so richtig trennen. Was muss ich hier nur mitmachen, was soll das alles?

Sein Freund kommt an die Bar und packt ihn an der Schulter.

„Einfach eine Wahnsinns-Party. Und ein Wahnsinns Brautpaar. Ich beneide dich wirklich.“

„Sie gefällt dir wohl, meine Braut?“

„Machst du Witze? Keines der anderen Mädchen hier kann ihr das Wasser reichen. Du kannst wirklich stolz sein. Du hast die schärfste Braut, die ich je gesehen habe.“

Er beugt sich zu seinem Kumpel.

„Du lässt die Finger von ihr, klar. Sonst bring’ ich dich um.“ Ich weiß, dass er es ernst meint.

Sein Freund geht zurück und hebt beide Hände. Sein Lachen ist verschwunden.

„Du weißt, dass deine Mädchen für mich immer tabu waren. Seit du sie kennst, bin ich euer beider Freund. Was ist los mit dir, Mann?“

„Entschuldige, die Eifersucht macht mich fertig. Ich habe es nicht so im Griff, wie ich es gerne hätte.“

„Das hat man dir gerade angesehen. Zum Glück hattest du kein Messer in der Hand. Reiß dich zusammen. Du hast die beste Frau, die man sich Wünschen kann und sie hat nur Augen für dich.“

„Bist du nie eifersüchtig?“, will er von seinem Kumpel wissen.

„Doch schon, daß ist nicht einfach etwas was man kontrollieren kann. Aber ich denke, Eifersucht hat auch viel mit Selbstwert zu tun. Betrachtest du dich selbst als mangelhaft und minderwertig, denkst du, dass die anderen dich auch so sehen, sogar deine Zukünftige. In Folge ist natürlich jeder andere besser als du und schon hast du wieder einen Grund zur Eifersucht.“

Genau das war es. Der Typ hatte in einem Satz mein komplettes Gefühlsleben beschrieben. Was konnte ich schon, was war ich für andere wert? Dem Karl seinen Kiosk leer saufen, darin war ich spitze. Das war es aber auch schon.

„Gehst du noch zu deinen Sitzungen?“, will er wissen.

„Ja“, antworten wir, „und daran, dass du nun keine blutige Visage hast, kannst du sehen, dass mir die Therapie hilft. Obwohl sie nicht die Eifersucht verschwinden lässt.“

Seine Braut kommt auf ihn zu und ich spüre wieder seine Freude. Sie hält ein kleines Heft in der Hand und reicht es ihm.

„Das ist die Broschüre von der „Organisation zur Erforschung der Leukämieerkrankung bei Kindern“, von der ich dir erzählt habe. Du weißt noch, ich wollte alle Spenden, die wir heute Abend sammeln dieser Organisation zur Verfügung stellen. Wenn es dir recht ist?“

Früher hätte er auf solche Blätter seinen Drink gestellt. Doch nun ist er interessiert, weil es ihr wichtig ist.

„Ich denke, das ist die richtige Entscheidung. Ich habe mein Geld schon viel zu lange verplempert.“

„Dann komm mit mir nach vorne und lass es uns gemeinsam bekannt geben.“

Er wirft noch einen kurzen Blick auf das dünne Heftchen.

– Jährlich erkranken in Deutschland ca. 2000 Kinder an Leukämie –

Er lässt das Heft an der Bar liegen und nimmt sie bei der Hand. Gemeinsam gehen sie nach vorne zum Mikrofon. Ich bleibe zurück, ich verlasse ihn.

Starhochzeit

Ich sitze auf einer Couch und starre vor mich hin. Die Angst um ein Kind, mein Kind, ist unbeschreiblich. Sie verdrängt jedes normale Denken und Handeln. Meine Frau betritt den Raum und ich breche wieder in Tränen aus. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter.

„Wir müssen los, bitte!“

Ich schaue sie an und alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich habe einen Kloß im Hals, der mich am Atmen zu hindern scheint. Wir müssen los, sie hat Recht. Ich kann doch nicht zu einem Termin, bei dem ich gesagt bekomme ob mein kleines Mädchen leben oder…

„Ich kann nicht, ich schaff’s einfach nicht. Ich kann da nicht hin. Stell dir doch mal vor er sagt uns, dass…“

Sie brüllt mich an, die Tränen laufen ihr die Wangen runter.

„Ich will so was nicht hören. Hör auf, sein einfach still und steh auf. Jetzt!“

Seine, meine, Beine wollen nicht so richtig. Sie hilft mir beim Aufstehen und nimmt mich dann in den Arm.

„Ich habe auch Angst. Was heute auch passiert, wir können das zusammen durchstehen. Lass mich jetzt nicht alleine. Ich brauche doch auch jemand, der mich stützt.“

Im Auto kommt alles wieder. Zum tausendsten Mal.

Der Arzt, der uns die Mitteilung macht.

„Ihre Tochter hat Leukämie“, hat er gesagt und dann fing er an, über Heilungschancen bei Kindern zu faseln.

Die sich ständig wiederholenden Gespräche bei den Spezialisten. Dann erzählen sie dir was von ALL, AML, CLL und CML, von lymphatischer Leukämie und myeloischer Leukämie. Das unsere Tochter zum Glück an ALL leidet und hierbei die durchschnittliche Heilungsrate bei 80 Prozent liegt. Zum Glück, ich könnte kotzen!

Die Untersuchungen an meinem kleinen Schatz und danach der Beginn der Chemotherapie. Als ich dann beim Knuddeln plötzlich ihre Haare in der Hand halte, dachte ich zum ersten Mal, ich würde verrückt werden. Um sie nicht zu erschrecken habe ich behauptet, ich müsste mal dringend Pipi. Tatsächlich lag ich neben der Besuchertoilette und hab’ geheult, bis meine Frau mich gefunden hat.

Dann die Diskussionen, ob eine Knochenmarkstransplantation nötig ist oder nicht.

Meine Frau berührt mich am Bein.

„Sag mir was Schönes. Irgendetwas.“

„Ich hatte schon lange keine schönen Gedanken mehr“, entgegne ich.

„Ich weiß, versuch es trotzdem.“

Ich schaue aus dem Autofenster, schlucke durch meinen Kloß im Hals und fange einfach an.

„Es wäre schön, jetzt  mit euch beiden auf einem Spielplatz zu sein. Die Sonne scheint und ich sitze mit ihr im Drehkarussel und mir wird schlecht. Dann steige ich aus und drehe sie weiter, bis es ihr zu schnell wird. Du hast natürlich wieder an alles gedacht und breitest in der Zeit die Picknickdecke aus und stellst die Getränke und die kleinen Dosen mit Essen drauf.“

Sie lächelt. „Ein schöner Gedanke, aber du magst doch gar keine Spielplätze.“

„Da siehst du mal, wie verzweifelt ich bin“, sage ich und wir müssen beide anfangen zu lachen.

Sie drückt meine Hand.

Im Warteraum blättere ich in einer Zeitung. Klimaveränderung, paranoide Innenminister und WM in Peking. Doch kein Problem der Welt kann es mit meinem aufnehmen. Alles wird von meinen seelischen Schmerzen überschattet und nieder gedrückt.

Der Arzt kommt selbst herein und lacht uns an.

„Ich will sie nicht lange mit Geschwafel langweilen. Das Wichtigste zuerst: Ihre Tochter wird wieder völlig gesund. Der Heilungsprozess wird wahrscheinlich noch ein wenig dauern, aber die Untersuchungsergebnisse sind eindeutig.“

Ich heule hemmungslos drauf los. Genug Tränen vergossen, sage ich mir. Keine Chance, ich drücke den Arzt und weine seinen Kittel nass. Er ist von der Situation ein wenig überfordert, denn er hat auch schon ganz feuchte Augen. Dabei ist es doch meine Tochter, denke ich und muss lachen.

Als ich ihn verlasse, bin ich froh. Nicht mal meinem schlimmsten Feind möchte ich diese Erfahrung wünschen. Die Angst sein Kind zu verlieren übersteigt alle Vorstellungen, niemand sollte das erleben müssen.

Leukamie

Ich habe trainiert! Tage, Wochen, Monate. Nur für diesen einen Moment. Vor mit liegt die Bahn. 100m Schmerzen,  Entbehrungen und Zweifel.

Die Hupe ertönt. Ich klopfe meine Schuhe ab und begebe mich in aller Ruhe in meine Startposition. Ich schaue nach vorne auf die Linien, meine Herausforderung. Dann kommt dieser unglaubliche Moment der Stille, kurz bevor der Startschuss ertönt. Als würden alle Geräusche der Welt erstickt, um sich in diesem Knall zu entladen. Ich sehe nur noch die beiden Streifen, die meinen Weg markieren.

Die Beine katapultieren mich nach vorne. Der Wind rauscht in meinen Ohren. Dort, wo die Linien zusammenlaufen, ist mein Ziel. Ich werde leichter und leichter, während mich scheinbar nichts mehr aufhalten kann. Mein Körper schnellt auf das Ziel zu. Alle Kraft fließt in diesen einen Moment. Ich laufe ohne zu hören, ohne zu sehen. Alles reißt an mir, während die Ziellinie unter mir hindurch gleitet. Ich bremse meinen Lauf und mit einem Mal sind alle Geräusche wieder da. Der Lärm der Zuschauer ist unglaublich. Ich schaue auf die Anzeigetafel. Dieser bange Moment der Ungewissheit wenn die Welt dich wieder hat. Das Tosen der Menge, als die Zeit erscheint ist unbeschreiblich und im ersten Augenblick kann ich es nicht glauben. Das wäre der neue Weltrekord! Ich schreie laut auf, juble und laufe eine Runde während ich mich feiern lasse. Ich habe es tatsächlich geschafft, bin über mich selbst hinausgewachsen, bin frei.

Sport

Frei. Keine fremden Gedanken und Körper mehr. Ich hoffe, ich habe es geschafft und verstanden. Die Erfahrung was wirkliche Schmerzen sind und was es bedeutet, etwas mit Erfolg zum Ende zu bringen.

Ob ich mein Leben wieder in den Griff bekomme? Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, dass man es schaffen kann wenn man nur will. Keine neue Erkenntnis, aber selten hat jemand deutlicher vor Augen geführt bekommen, was wirkliche Tragödien sind, was Liebe bewirken und ein Wille erreichen kann. Ich werde es schaffen, denn zum ersten Mal ist mir etwas wichtig genug.

Lokalnachrichten

© Kurt Waplinger 2007

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Datum: Sonntag, 22. Juli 2007 13:52
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